009-Wovor ich Angst habe

Die zufälligen Gespräche mit meiner netten Nachbarin waren immer lustig. Das letzte Mal jedoch nahm unser Gespräch eine ernste Wendung, sozusagen Corona bedingt. Zum Schluss beschied sie mir, den Mainstream-Medien nicht so viel Glauben zu schenken. Das hätte nur zur Folge, dass man fortan mit Scheuklappen durchs Leben laufen würde. Sie lese keine Zeitung und schaue auch kein Fernsehen, insbesondere keine Nachrichten dort. Unserem bisherigen harmonischen Umgang geschuldet versprach ich Besserung. Das Grübeln über ihren Begriff “Scheuklappen” lies mich aber nicht mehr los und mündete schließlich in dieses nachfolgende Textlein. 😉

In dem kleinen Dorf im Osten, wo ich geboren wurde, musste das eine Pferd unseres Nachbarn immer Scheuklappen aufziehen, damit es vor lauter Schreck nicht ausbrach, wenn es einmal in das nahe Städtchen ging. Das andere Pferd war ein Kaltblütler, der sich schon im Rentenalter befand. Der war auch ohne Scheuklappen die Ruhe “in Person”.

Eigentlich geht es um Furcht, oder genauer dem Schutz vor Furcht. Scheuklappen vereinfachen die Sicht auf die Welt. Man sieht nur noch das, was man sehen möchte. Denken ist nicht mehr nötig. Es reicht zu “meinen”. Durch Scheuklappen geschützt lässt sich trefflich schwadronieren und lustvoll fantasieren.

Was es noch braucht, ist ein Führer. Ein Guru, der das Geschehen bündelt und in einfachen Worten thematisieren kann. Der Grundstein für Verschwörungstheorien und Populismus ist gelegt. Diese selbsternannten Heilsbringer bilden die Keimzelle. Selbstgerechte Nörgler und Besserwisser formen dann deren Fußvolk.

Wie die letzten Monate zeigen, gibt es immer genügend Leute, die aus der Radikalität einer Position folgern, dass sie richtig ist. In der Regel steckt auch Eitelkeit mit dahinter. Verschwörungstheoretiker tragen manche Überzeugungen wie einen Orden für Furchtlosigkeit vor sich her. Der Klimawandel ist eine Lüge. Bill Gates hat Corona erfunden. Solche und ähnlich krude Ideen erzeugen ein elitäres Gefühl und bilden eine Blase, in der man sich gemeinsam mit anderen Mitstreitern wohlig einrichte kann. Sich vom Mainstream zu unterscheiden ist dabei das verbindende Element.

Um das oben erwähnte Grübeln fortzusetzen, stelle ich mir die Frage, was bringt die Menschen auf eine solche Spur? Was treibt sie in dieses geistige Ghetto? Und dann die wichtigste Frage: Wie ist das bei mir?

Wir leben in einer Welt, in der alles im Fluss ist. Nichts erscheint mehr sicher, alles wirkt beliebig. Dass in unseren chaotischen Tagen die Furcht wächst, ist normal. Die Frage ist, wie gehen wir mit dieser verständlichen Angst um?

Es geht also letztendlich um Furchtlosigkeit im Denken. Gedanken haben große Macht. Das spürt man, wenn man ihnen nachhängt. Je nach Stimmungslage, mäandern die Gedankengänge in tausend Richtungen. Es ist keine leichte Sache, sich ihnen bewusst auszusetzen. Insbesondere dann nicht, wenn sie den eigenen Überzeugungen entgegenstehen.

Die Leistung besteht nun darin, sich durch die Ergebnislosigkeit des Denkprozesses nicht entmutigen zu lassen. Es kostet Kraft, die vielen Irrwege zu korrigieren. Es erfordert Mut, die Unabänderbarkeit einer Situation auszuhalten. Wie verstörend ist es, wenn der Geist keine sichere Trittstufe mehr findet! Weil die Informationsflut einfach nicht mehr zu bewältigen ist. Weil selbst die Experten sich widersprechen. Weil keine Lösungen in Sicht sind. Weil das Leben einfach zu schnell wird.

Solche Einsichten machen viel mehr Angst als die Ideen der Verschwörungstheoretiker. Zeit für eine Ermutigung: Denken ist ein dynamischer Prozess. Solange man damit nicht aufhört und seine eigene Meinung sozusagen permanent hinterfragt, ist das furchtlose Denken im Fluss. Auch wenn der Kurs unbestimmt und ein lohnendes Ziel sehr fern ist, zurück bleibt nur noch die Angst, dass die eigenen Überzeugungen verletzlich sind. Mit dieser Angst umzugehen, kann man lernen. In jedem Alter. Schritt für Schritt. Denn mit jedem kleinen Erfolg steigt das Selbstwertgefühl und damit die Hoffnung.

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