Das erste Mal fiel er mir auf, als wir aus Pamplona hinaus wanderten. Er bog zur Universität ab, so wie wir, um sich dort einen Stempel für das Pilgerbuch abzuholen.
Zwei Tage später zog er auf der anderen Straßenseite wieder an uns vorbei, den Kopf leicht gesenkt. Er schien in sich versunken und würdigte uns keines Blickes. Ein Schrank von einem Mann. Ich schätzte ihn auf knapp zwei Meter.
Beim dritten Mal hatte ich ihn überhaupt nicht bemerkt, als er plötzlich hinter mir stand. Seine Frage: „Are you okay?“, beantwortete ich mit einem gepressten: „No!“. Meine Schulter hatte sich gerade wieder in einem schmerzhaften Krampf zusammen gezogen. Seit Tagen kämpfte ich mit diesem Problem. Mein Rucksack saß offensichtlich völlig falsch auf dem Rücken. Mit ein paar sehr bestimmten Handgriffen zerrte und zurrte der Mann an ihm und mir herum.
“Allright?“, fragte er mich leicht schmunzelnd. Überrascht antwortete ich mit einem kurzen Nicken. Dann gab er mir einen aufmunternden Klaps auf die Schulter und schon war er wieder zehn Meter vor mir. Dankbar rief ich rief ihm ein „Thank you!“ nach, dann war er um die nächste Ecke verschwunden.
Später. Eine bunte Truppe in einem noch bunteren Lokal. Menschen aus fünf Nationen. Das Essen war gut, der Wein noch besser.
Er saß mir gegenüber und es kam mir vor, als würden wir uns schon ewig kennen.
„Warum läufst du den Camino?“, ist eine häufig gestellte Frage unter den Pilgern. Irgend jemand hatte sie ihm heute Abend gestellt. Noch nie hatte ich bisher eine so emotionale und offenherzige Antwort auf diese Frage gehört.
„Wahrheit ist das Sprechen einer Seele zu einer vertrauten Seele“, meinte einst jemand. Genauso empfand ich, als ich ihm zuhörte. Nicht wegen der Ereignisse in unser beider Leben, diese waren zu unterschiedlich. Eher wegen der Gefühle, die ich bis ins Detail nachempfinden konnte.
Er war zehn, als seine Eltern mit ihm und seinen beiden jüngeren Geschwistern von Kuba nach Puerto Rico flohen. Anfangs wurde er in der Schule ständig gehänselt, weil er anders war, weil er Kubaner war. Doch weil er stark war, legte sich bald niemand mehr mit ihm an. Sein Englisch verbesserte sich schnell. Geachtet wurde er trotzdem nicht, er war und blieb „der Kubaner“.
Später ging er in die USA, wo er ein Medizinstudium begann und es mit Auszeichnung beendete. Mit diesem Abschluss in der Tasche hätte er ein angenehmes Leben führen können. Aber es zog ihn dahin, wo Not war, wo sonst keiner hinwollte. Im Vordergrund standen für ihn immer das Helfen, das Lernen und ja, das Abenteuer. In den letzten fünfzehn Jahren leitete er ein Kinderhospital in New Orleans.
Dann passierte das mit seinem Sohn, und nichts war mehr wie vorher.
Eines Tages betraten zwei Herren in schneidigen Uniformen sein Sprechzimmer und sagten Dinge, die er nicht bereit war, zu verstehen und anzunehmen – Sein Sohn war tot. Mit einundzwanzig im Einsatz bei der Coast Guard tödlich verunglückt.
Der große Mann hielt inne. Das betroffene Schweigen am Tisch wurde nur übertönt von der Musik aus den Siebzigern, die unaufdringlich aus dem Hintergrund zu uns herüberschallte.
Sein Sohn wollte in diesem Jahr den Camino machen, fuhr er nach einer Weile mit seiner Erzählung fort. Mit ihm, dem Vater.
Die Stimme des Amerikaners stockte abermals. Dann blickte er uns an und sagte: „Und ich habe abgelehnt!“
In seinen Augen stand Trauer. Wieder hatte er Mühe, weiter zu sprechen. „Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Klinik ohne meine Führung funktionieren würde.“
Sein Gesicht verzerrte sich, als durchlitte er einen körperlichen Schmerz. Niemand am Tisch sagte ein Wort.
Scheinbar sachlich fuhr er fort: „Ich habe die Leitung der Klinik abgegeben und laufe jetzt den Camino.“
Und wie zur abschließenden Erklärung fügte er leise an: „Ich habe seine Asche bei mir. Jeden Abend gehe ich hinaus in diese Landschaft, die er so gerne sehen wollte, verstreue ein wenig davon und rede mit ihm.
Und weine. Und bete.“
<© Jörg Zschocke>
Diese Geschichte stammt aus dem Buch
“Granny+Opa auf dem Jakobsweg”