005 Das Lavendelzimmer

Nina George

KNAUR

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich noch nie ein Buch von Nina George gelesen hatte. Dabei hatte mir meine Liebste gerade dieses Buch immer und immer wieder empfohlen. Ihren letzten Hinweis, dass Nina George 2011 den DELIA-Literaturpreis bekommen hat, hatte ich soeben an mir abprallen lassen. Doch dann hatte meine Frau einen Satz nachgeschoben, der mich sofort elektrisierte: “Das ist der Preis für den besten Liebesroman.”

“Waaaas? – Den will ich doch haben! Ich muss doch nur unser gemeinsames, nun schon fünfzig Jahre dauerndes Leben zu Papier bringen. Es kann doch nicht so schwer sein, die Realität des Alltags in eine Liebesgeschichte umzusetzen. Eigentlich muss ich doch nur meine tausendundeins Notizen auswerten und in gescheite Formulierungen verworten. Und eine Protagonistin habe ich doch auch schon.”

Meine Stimme war bei diesen Sätzen immer lauter geworden. Als ich halb resignierend, halb trotzig und um zehn Dezibel leiser nachschob: “Das Leben schreibt doch die besten Geschichten”, machte sich ein mildes Lächeln auf dem Gesicht meiner Frau breit. Dann hagelte es lauter profane Ratschläge. Von einem Drehbuch war die Rede, von verbesserungswürdigen handwerklichen Fähigkeiten, von Durchhaltevermögen und anderen Dingen. Den stärksten Stoß aber versetzte sie meinem Ego mit ihrem letzten Satz. Ich könne nicht dreihundertfünfzig Seiten nur über Wolke Sieben schreiben, zumal wir ja nicht ständig auf Wolke Sieben gewesen seien. Jedenfalls sie nicht. Und im Übrigen – als Protagonistin stünde sie sowieso nicht zur Verfügung. Ihre Miene war grimmig.

Ich muss sehr betroffen geschaut haben, denn plötzlich entspannten sich ihre Gesichtszüge. Ihre Stimme wurde weicher. Sie strich mir übers Haar und sagte: “Jetzt lies erst eimal dieses Buch, Schatz! Anschließend können wir ja noch einmal über deine schriftrstellerische Karriere reden.”

Nun, liebe Leute, ich habe dieses Buch gelesen. Es ist großartig. Es ist ein ganz wunderbares Buch. Ein Buch, das ihr unbedingt lesen müsst.

Dieses Buch hat vieles bewirkt in mir:
Ich habe das Gedicht “Stufen” von Hesse wieder einmal gelesen.
Ich habe ein wenig Recherche über den französischen Ort Sanary gemacht, von dem nur noch der Name in meinem Gedächtnis war, aber ich mich nicht mehr erinnern konnte, warum er dort war.
Ich kenne das Netz der französischen Wasserwege inzwischen sehr gut. Jedenfalls auf der Karte.
Ich habe so wunderbare Sätze gelesen wie diese hier:
“Aber er wusste, er konnte nicht weinen.”
“Die Sehnsucht nach der Zeit, als man ein Kind war, als die Tage ineinanderflossen und Vergänglichkeit keine Bedeutung hatte.”
Oder diese hier:
“… zwischen Ende und Neuanfang gibt es eine Zwischenwelt … darin sammeln sich Träume und Sorgen und vergessene Absichten.”

Beim Lesen der letzten Seiten hatte mich meine Frau ganz offensichtlich beobachtet, ohne dass ich es gemerkt hatte. Denn als ich aufschaute, lächelte sie mich an und sagte: “Und jetzt freue ich mich auf deine Geschichte, denn ich mag deine Texte.” In diesem Moment war ich mir nicht sicher, ob ich nicht vielleicht doch noch mitten im Buch war. Denn so schöne Sätze wie diesen hatte ich viele im Buch gelesen.

Aber auch wenn mein Traum vom eigenen Buch eine Absicht bleibt, die dereinst in der Zwischenwelt versinkt, so habe ich doch endlich wieder einmal ein Buch gelesen. Ein Buch über die Liebe und über eine außergewöhnliche Frau. Dazu gebracht hat mich ebenfalls die Liebe. Die Liebe zu einer sehr besonderen Frau.

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